“Wann und wie darf ein Dirigent die Partitur verändern?”

Auf der diesjährigen Juroren–Tagung des Bund Deutscher Blasmusikverbände e.V. (BDB) und des BVBW am 11.01.2020 in der Bundesakademie in Trossingen, stand in einem Fachvortrag von Musikwissenschaftler Jörg Murschinski diese spannende Frage im Mittelpunkt. Er erläuterte seine Sichtweise als Komponist und Arrangeur. Anlass genug für mich, diesen Blogbeitrag zu schreiben und sowohl die Eindrücke aus dem Fachvortrag von Jörg Murschinski und meine Sichtweise darin zu verarbeiten.

Bei der näheren Beschäftigung mit der sehr spannende Grundfrage und mit der gelebten Praxis der Proben– und Konzertarbeit in Blasorchestern, werden die Sichtweisen und Aspekte sehr vielfältig und stellenweise emotional kritisch. Beleuchten wir zuerst die verschiedenen Sichtweisen und beteiligten Parteien:

Welche Sichtweisen und Parteien sind beteiligt?

Der Komponist

Mit seiner kompositorischen Idee und der Vorstellung der Klangfarben erschafft der Komponist das musikalische Werk. Damit hat er das Recht alles zu definieren und auch in der Partitur, allen später Ausführenden, Vorgaben, Anmerkungen in der Partitur, obligate Stimmen oder Stichnoten vorzugeben. Oder ist es hier bereits ein “Mit auf den Weg geben”?

Der Arrangeur

In seiner Grundaufgabe ist ein musikalischer Arrangeur der Einrichter der Instrumentierung der Komposition. Seine Bearbeitung macht ihn damit sofort zum Mitgestalter der Komposition, also einem Co–Komponist. Er greift also sehr intensiv in die Partitur ein.

Der Verlag

Der Verlag will und muss Geld verdienen. Man müsste meinen, dass eigentlich der Verlag nicht in die Gestaltung der Partitur bzw. der Komposition eingreifen muss. Leider ist dies aber weit gefehlt. Die Verlage geben Vorgaben aus wirtschaftlicher Sicht und gestalten dadurch leider viel zu intensiv die Partitur bzw. Komposition mit. Dies bezieht sich auf Gestaltung und Layout der Partitur, aber auch auf welche Instrumente dürfen eingesetzt werden und welche nicht, damit es z.B. auch in Grad 2 und 3 verkauft werden kann. – Hier wird jeder Dirigent, der sich etwas mit der Entwicklung der Blasorchester–Verlagswelt in den letzten Jahren beschäftigt hat, wissen, wie sinnvoll und unsinnig viele Werke, Arrangements und Instrumentationen dadurch entstehen.

Der Dirigent

Mitten im Spannungsfeld der oben genannten und nachfolgenden weiteren Parteien und Sichtweisen steht der Dirigent. Von ihm wird erwartet, dass er den Komponist komplett versteht, dessen Klangvorstellung erfassen und in seiner Übersetzung auf das Orchester, korrekt anwenden kann. Dies bedeutet, dass er z.B. die Klangbalance auf sein Orchester einstellen muss, da ja der Komponist nicht wissen kann, mit welcher Besetzung das Orchester dieses Werk aufführen möchte. So haben ja die wenigsten Blasorchester immer die perfekte ausgewogene Spielstärke und Besetzung auf jedem Register. Sind vielleicht zu viele oder zu wenige Flöten vorhanden? Oder nur eine Oboe besetzt? Ist kein Marimbaphon vorhanden? –> Die Liste dieser Probleme oder sagen wir besser der täglichen Herausforderung in der Arbeit mit Amateur Blasorchestern, könnte man noch lange fortsetzen. Aber genau dies zeigt, dass hier eine gewisse Grundanforderung an “Eingreifen in die Partitur” aus der Praxis schlicht erzwungen wird.

Der Musiker

Am Ende der Kette steht als Sichtweise der ausführende Musiker. Denn erst durch seinen Atem im Blasinstrument, den er zu Tönen formt, wird die Idee des Komponisten, die Instrumentierung des Arrangeurs, die Interpretation des Dirigenten, für das Publikum erst hörbar. Also ist der Musiker dann eigentlich der finale Entscheider? Dann entscheidet der Musiker über das, was ihm Komponist und Arrangeur im geschriebenen Notenbild anbieten und der Dirigent ihm während der Probenarbeit erklärt und sein Dirigat im Aufführungs–Momentum mit Schlagbild, Gestik und Mimik zeigt.

 

Was bedeutet “…in die Partitur eingreifen…” ?

Das “Eingreifen in die Partitur” bedeutet das Verändern der notierten Notenvorgaben in jeglicher Art und Weise. Wenn man “Werktreue” strikt wahrnimmt, dann könnte man dies so glauben. Aber hier liegt eine Herausforderung in der Definition des Wortes “Werktreue”. Ist es treu, alles im Sinne des steifen Gerüst der Partitur zu belassen? Oder ist es treuer, die Klangvorstellung des Komponisten bestmöglichst zu realisieren?

— Denkpause wichtig —

Wenn man in der Kunst und Literatur das Wort “Treue” erforscht, stößt man auf eine intensive und langwierige Diskussion zwischen Befürwortern und Gegnern eine strikten Werktreue. Hilfreich könnte folgende Sicht sein, die aus Wikipedia zitiert ist:

“Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller lehnten den Begriff der Werktreue für ihre eigenen Arbeiten am Weimarer Nationaltheater grundsätzlich ab und editierten die Textvorlage fremder Autoren. 1789 soll Goethe ausdrücklich darauf hingewiesen haben, dass im Theater keineswegs die Literatur, sondern die Aufführung der Gegenstand des Theaters sei.”

Aus dieser Sichtweise von Goethe abgeleitet, könnte also der Dirigent des Blasorchester immer Sorge tragen für den besten Aufführungsmoment.

Aber Vorsicht: Hier steckt auf jeden Fall die Gefahr darin, dass der Dirigent sich in der Sichtweise bzw. Rolle viel zu sehr auslebt als “Komponist” oder “Arrangeur”. Ist er sich seiner Grenzen gewahr, dass er durch musikalische Maßnahmen NUR die Anpassung seines Orchesters an Komposition und Raumakustik vornimmt, dann ist dies sicherlich konform. Sollten aber Klangcharakter und Melodien verändert werden, dann ist das sicherlich eine Überschreitung und deutlicher Eingriff in die Komposition.

 

Wie wird in die Partitur bzw. Komposition eingegriffen?

Fehlende Instrumente ersetzen

  • “Oboe” durch “Trompete mit Dämpfer”
  • “Fagott 2” durch eine “Bass-Klarinette” oder ein “Bariton-Saxophon”
  • “Kontrabass” durch “Tuba”
  • “Englischhorn” durch “Alt-Saxophon”
  • “Tenorhorn” durch “Tenor-Saxophon”
  • “Oboe 2” durch “Flöte 2”
  • “Posaune 3” durch “Posaune 1”
  • etc.

Bei all diesen Ersetzungen steht die kritische Frage “Bleibt der Klangcharakter wirklich erhalten?”. Als Oboist würde ich in dem Falle sagen, dass eine “Trompete mit Dämpfer” NICHT die Oboe ersetzen kann, ohne den “Klangcharakter” deutlich zu verändern und damit die “Klangvorstellung” des Komponisten abweichend beeinflusst. Dies ist also ein tiefer Eingriff.

Bleibt man bei Ersetzungen innerhalb einer Instrumentenfamilie oder Klangfamilie, also z.B. Posaune 3 durch Euphonium, dann ist das fast immer ohne Veränderung des Klangcharakters möglich und daher ein probates Werkzeug und im Rahmen der Werktreue möglich. Ausnahmen könnten aber auch hier sein innerhalb der Saxophon-Familie, da ein Altsax nur in Grenzen ein Tenor- oder Baritonsaxophon ersetzen kann. Oder auch ein Piccolo kann keine Flöte 2 ersetzen.

Tonlagen verändern (z.B. durch Oktavieren +8va oder -8va)

  • Musiker sagt: “Das ist mir zu hoch geschrieben, die Töne treffe ich nicht.
    Dirigent antwortet: “Dann spiel das einfach eine Oktave tiefer.
    —> Ist das ein probates Mittel oder ist nicht auch hier die Gefahr, dass sich Klangbalance aber auch Klangfarbe je nach dem massiv verändern? Dann wäre auch das ein “massiver Eingriff in die Partitur”, oder?
    Hierzu ein Beispiel: Wenn eine Klarinette 2 eine Oktave tiefer spielt wird es vielleicht nicht so sehr hörbar werden, wie wenn das aber ein Alt-Saxophon 1 oder aber eine Flöte 1 oder Piccolo machen wird.

Ausdünnen oder Tutti verändern

  • Musiker weglassen, Stimmen ausdünnen. – z.B. nur 2 Trompeten, statt 5 Trompeten spielen lassen
    —> Das ist auf jeden Fall ein wichtiges Mittel eines Dirigenten und gehört in das “Übersetzen der Partitur auf das jeweilige Orchester”, von einem Eingriff und verändern der Partitur kann man hier m.E.n. nicht sprechen.
  • Musiker zusätzlich mitspielen lassen. – z.B. eine Stimme ist zu wenig hörbar (z.B. spielt der Musiker zu schwach oder zu ängstlich) und man lässt weitere Musiker mitspielen.
    —> Innerhalb der Instrumentenfamilie sehr gut machbar. Ergänzt man aber z.B. für ein zu schwaches Fagott eine Bassklarinette oder ein Bariton-Saxophon, dann wird das auf jeden Fall die Klangfarbe deutlich verändern und ist ein tiefer Eingriff in die Partitur.

Stichnoten und obligate Stimmen mitspielen lassen

  • Komponisten und Arrangeure bieten oft “Stichnoten” und “obligate Stimmen” an. Bei guten Werken findet man dann meist eine Anmerkung im Vorwort der Partitur zu der Idee dieser Alternativ-Stimmen. Bspw. bei Alfred Reed sind oft diese kompositorischen Ideen erläutert. Aber das ist leider bei vielen neueren Werken nicht der Fall oder aber viele Dirigenten überlesen diese Anmerkungen und entscheiden dann viel zu oft “ja mitspielen” oder überlassen die Entscheidungen sogar ihren Musikern.
    —> Wenn doch das Angebot durch den Komponist besteht, kann man dann von einem “Eingriff in die Partitur” sprechen? Gilt die Maxime “Klangvorstellung erhalten” und sinnvoll auf Raumakustik und Orchesterbesetzung übersetzen? Oder ist das kreativer Freiraum, um die Vorstellungen des Dirigenten zu realisieren? Diese Antwort müssen die Komponisten und Arrangeure geben.

Fazit

Die Liste der Eingriffe und in der Praxis verwendeten Mittel könnte man noch deutlich erweitern. Jeder Dirigent kennt hier sicherlich viele Beispiele aus seiner probetäglichen Arbeit mit seinem Blasorchester. Aber im Bezug auf die Grundfrage “Wann und wie darf ein Dirigent die Partitur verändern?” verhält es sich eigentlich immer gleich. Sobald eine Maßnahme die “Klangfarbe” deutlich verändert oder aber auch die kompositorische Idee “verletzt”, dann ist der Eingriff nicht sinnvoll und sollte vermieden werden. Es gibt immer noch die Möglichkeiten “das Werk nicht zu spielen” oder aber “Gastmusiker” einzuladen, um fehlende Stimmen im Original nach Idee des Komponisten auch aufzuführen. Denn so kann das Publikum doch wirklich das hören, was der Komponist komponiert hat. Und schauen wir bei den Kollegen aus der professionellen Klassik: Niemand würde in einer Beethoven-Sinfonie eine Fagott-Stimme durch ein Bariton-Saxophon ersetzen oder eine Harfe durch ein Keyboard.

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